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Titel
Westernisierung der Geschichtswissenschaft. Transatlantische Gastprofessoren im Umfeld der Historischen Zeitschrift


Autor(en)
Krämer, Matthias
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 641 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birte Meinschien, Frankfurt am Main

In seiner 2021 als Buch erschienenen Dissertation widmet sich Matthias Krämer einem bisher kaum betrachteten, für die westdeutsche Historiographiegeschichte der Nachkriegsjahrzehnte aber wichtigen Thema: der Rolle von emigrierten Historikern als Gastprofessoren im Prozess der „Westernisierung“ der bundesdeutschen Zunft.

Krämer untersucht „transatlantische Gastprofessoren“, die er folgendermaßen definiert: „Historiker vom Rang eines Professors, die nach ihrer Emigration aus dem Machtbereich des NS-Regimes und der Etablierung im transatlantischen Zielland in den deutschsprachigen Raum zurückkehrten, ihre Rückkehr aber nicht als Remigration gestalteten, sondern lediglich den Weg einer Gastprofessur als Rückkehr auf Zeit gingen“ (S. 19). Zur Erhebung der personenbezogenen Daten dient vor allem das „Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration“1, ergänzt durch weitere Quellen. Dies führt dazu, dass nur Personen, die bis zum Erscheinen des Handbuchs Anfang der 1980er-Jahre eine Gastprofessur erreichten, in die Arbeit einbezogen werden. Krämer postuliert, dass es sich „bei den transatlantischen Gastprofessoren um diejenige Untergruppe der Historiker-Emigration [handelt], bei der die stärkste Etablierung in der Emigration in Verbindung mit dem stärksten Transfer aus der Emigration in die Herkunftsländer zu vermuten ist“ (S. 31).

Die Untersuchungsgruppe umfasst Fritz Epstein, seinen Sohn Klaus Epstein, Felix Gilbert, George F.W. Hallgarten, Fritz Heichelheim, Felix Hirsch, Hajo Holborn, Manfred Jonas, Guido Kisch, Klemens von Klemperer, Theodore von Laue, Gerhard Masur, Carl Misch, Hans Rosenberg, Eugen Rosenstock-Huessy und Fritz Stern. Die Geburtsjahrgänge reichen von 1888 bis 1927. Krämers umfangreiche Arbeit beginnt mit einer Kollektivbiographie dieser Gruppe, angelehnt an die von Wolfgang Weber in „Priester der Klio“ gewählten Kategorien.2 Untersucht werden Herkunft, Bildungsweg, Karriere und Professur. Anhand von Karl Mannheims Begriff des „Generationszusammenhangs“ werden vier Generationen konstruiert. Die erste, dritte und vierte Generation verfügen jeweils über zwei Mitglieder (bzw. drei im Falle der vierten Generation), die zweite Generation über neun. Krämer betont in diesem Kontext die Bedeutung der Schulen-Zugehörigkeit zu Friedrich Meinecke und dessen Berliner Umfeld. Schlüssig beschreibt er die Karrierewege in der Emigration als Abfolge von drei sich überschneidenden Phasen: „Einnahmequellen und Forschungsbemühungen 1933–1943“, „Etablierung und akademische Lehre 1935–1947“ sowie „‚war effort‘ und Nachkriegsboom, 1942–1962“ (S. 124–145).

Nach der Einleitung und der rund 100-seitigen Kollektivbiographie untersucht Krämer die Migrationsmuster der Emigrierten im dritten Kapitel detailliert. Anhand einer Migrationsmatrix (eine Weiterentwicklung der von Dirk Hoerder, Jan und Leo Lucassen3 vorgestellten Matrix) als sehr hilfreichem Analyse-Instrument (S. 195) kann er so Gemeinsamkeiten und Unterschiede darstellen.

Im vierten Hauptkapitel „Transatlantische Gastprofessuren als Westernisierungsphänomen“ diskutiert Krämer zunächst den Begriff der Westernisierung und geht anschließend auf die Gastprofessuren der Emigrierten ein. Besonders interessant ist hier ein Abschnitt, der sich mit der Erinnerung an diese Gastprofessoren durch damalige Studierende beschäftigt. Krämer geht der Frage nach, „inwiefern das transatlantische Engagement der emigrierten Historiker den Transfer von […] oppositionelle[r] Weimarer Tradition, anglophone[r] Sozialwissenschaft und Kritische[r] Theorie […] auf die jüngere, kritische Sozialgeschichtsschreibung erst möglich gemacht hat“ (S. 272). Dabei nutzt er die von einem Team um Rüdiger Hohls und Konrad H. Jarausch geführten Interviews im Sammelband „Versäumte Fragen“4 und konstatiert, dass die Emigrierten durch ihr großes symbolisches Kapital auch zuvor in Deutschland nicht populäre Ansätze unterstützen konnten, zumal sie – nationalsozialistisch unbelastete – Rollenvorbilder waren und ihre Unterstützung das Kapital (im Bourdieu’schen Sinne) von westdeutschen Nachwuchshistoriker:innen mehrte. Vertieft betrachtet Krämer die Rolle Hans Rosenbergs, der in den Interviews zentral war. Anhand von Rosenbergs Nachlass kann dessen wichtige Stellung bekräftigt werden, die unter anderem durch die von Krämer so bezeichneten „Mentoratsbriefe“ eindrucksvoll deutlich wird.

Um die Rezeption der Gastprofessoren weitergehend zu untersuchen, betrachtet Krämer die Resonanz ihrer Werke in der „Historischen Zeitschrift“ (HZ) als im westlichen Nachkriegsdeutschland lange zentralem Forum der Zunft. Im fünften Kapitel werden anhand der Verlagsakten detailliert die Geschichte der HZ in den Jahren 1945–1949, ihre zentralen Akteure und Funktionen innerhalb der Wissenschaft dargestellt. Das sechste Kapitel untersucht die „Produktionsbedingungen“ der HZ und besonders auch das durch die Zeitschrift bereitgestellte Kapital im Bourdieu’schen Sinne.

Im siebten Hauptteil untersucht Krämer die 23 Rezensionen, die zu Werken der Emigrierten von 1949 bis zum Höhepunkt der Fischer-Kontroverse 1964 in der HZ erschienen. Nach einem ersten, quantitativen Schritt erfolgt eine qualitative Analyse, in der Krämer „zwei Phänomene […] als typisch für die Rezensionen von Emigranten-Literatur in dieser Zeit“ herausstellt: „Vergiftetes Lob und Ausschluss aus der Zunft“ (S. 480, S. 516). In den Rezensionen bis 1964 „überwiegt die Exklusion“ (S. 502). Auch in Bezug auf die Anzahl und Auswahl der rezensierten Arbeiten waren die Emigrierten in der HZ unterrepräsentiert. Krämer vergleicht das untersuchte Korpus einerseits mit Rezensionen durch Emigrierte in der HZ von 1949 bis 1964, andererseits mit Rezensionen der Werke der Emigrierten in der HZ zwischen 1965 und 1977, die deutlich positiver im Urteil waren.

Im achten Kapitel widmet sich der Autor der Rolle der Emigrierten in der Fischer-Kontroverse, da in dieser „verschiedene Entwicklungslinien der zuvor analysierten Phänomene kulminieren“ (S. 55). Nun setzte sich, so Krämer, „ein neuer Pluralismus gegen die traditionellen Regeln der Zunft“ durch (S. 521). Darauf aufbauend plädiert Krämer für eine „methodologische Neufundierung der Westernisierungstheorie“ (ebd.), in der der Begriff des Pluralismus ins Zentrum gerückt werden sollte.

Als Fazit diskutiert der Verfasser im neunten Kapitel den Nutzen der Kollektivbiographik für die Historiographiegeschichte und plädiert dafür, dass diese „andere Bereiche als das Leben und die Leistungen einzelner HistorikerInnen fokussieren [solle], nämlich: a) soziale Positionen, b) Durchsetzungsstrategien, c) Kommunikationsprozesse und d) Themenkonjunkturen“. In allen vier Bereichen konstatiert Krämer eine Wirksamkeit der Gastprofessoren, auch bedingt durch deren großes symbolisches Kapital. Somit ermöglichten die Gastprofessoren in der westdeutschen Geschichtswissenschaft einen Pluralismus, den Krämer zuvor als zentrales Element der Westernisierung ausgemacht hat.

Ergänzt wird die Arbeit durch Kurz-Biogramme der Emigrierten, ein Personenregister und ein durchdachtes Sachregister. An einigen Stellen der Arbeit wären Straffungen möglich gewesen, etwa im Abschnitt „Rezensionen heute“ (Kap. 6.5), den die Rezensentin zur Reflexion der eigenen Arbeit interessant fand, der jedoch die aktuelle Praxis der HZ in den Blick nimmt und damit nicht unmittelbar für den Untersuchungszeitraum relevant ist. Einige offene Fragen in der Arbeit ließen sich mit Hilfe der Akten der 1933 gegründeten Society for the Protection of Science and Learning (SPSL) klären.5 So erhielt Fritz Epstein nicht nur, wie von Krämer dargestellt, „von einer Tante Unterstützung für die Weitermigration in die USA“ (S. 198), sondern vor allem ein Stipendium der SPSL. Die Frage der Einbürgerung Fritz Heichelheims (S. 208) lässt sich so ebenfalls auflösen: Er stellte bereits im Dezember 1938 einen Antrag auf britische Staatsangehörigkeit. Der Rezensentin ist aus eigener Arbeit zudem bewusst, wie mühsam die Rekonstruktion von nicht im „Biographischen Handbuch“ erwähnten Gastprofessuren ist – trotzdem sei der Hinweis gestattet, dass Frank Eyck 1982 Gastprofessor in Würzburg war, Werner Mosse 1978/79 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld arbeitete sowie Walter Ullmann 1973 in Tübingen und München lehrte. Diese Professoren wären mögliche Ergänzungen der Untersuchungsgruppe und würden auch Großbritannien einschließen.

Insgesamt handelt es sich bei dem vorliegenden Buch trotz der genannten Kritikpunkte um eine anregende Lektüre. Die Arbeit bereichert die Diskussion um die Westernisierung – nicht nur der Geschichtswissenschaft – nach 1945, indem Matthias Krämer zu Recht die wichtige Rolle „transatlantischer Gastprofessoren“ betont. Seine konzeptionellen Überlegungen wie die Migrationsmatrix und die tiefenhermeneutische Analyse von Rezensionen werden weitere Forschungen anregen. Gleiches gilt auch für seine Nutzung verschiedener theoretischer, teils sozialwissenschaftlicher, Zugriffe für die Historiographiegeschichte sowie sein weiterführendes Plädoyer für eine veränderte Themensetzung dieser Subdisziplin.

Anmerkungen:
1 Werner Röder / Herbert A. Strauss (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, 3 Bde., München 1980–1983, https://doi.org/10.1515/9783110968545 (16.03.2022).
2 Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, Frankfurt am Main 1984.
3 Dirk Hoerder / Jan Lucassen / Leo Lucassen, Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Klaus J. Bade u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, 3., durchgesehene Aufl. 2010, S. 28–53.
4 Rüdiger Hohls / Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart 2000.
5https://archives.bodleian.ox.ac.uk/repositories/2/resources/3246 (16.03.2022).